15. Herbst 83, nachmittags | Lichtung im Wald | Schicksalsschlag, Nero Valerius, Penthesilea Achilléas, Anchor Aegidius, Spartacus Licinius, Ceres Acillius, Ezrael Achilléas, Sayyirah, Vesta Acillius, Desmond Aegidius, Aaron Miles, Nyke Astoria, Tuana Licinius, Karthago Dracas, Ares Licinius, Nova Odyssey, Rhíon, Artemis Miles, Álvaro, Kachina, Fawna Miles, Gaia Acillius, Lyrae, Hestia Dracas, , , Damhnait, Acalo Aegidius, Lucian Astoria, Cyan
Anscheinend waren sie in manchen Belangen doch einer Meinung. Vielleicht hingen sie aber auch zu sehr an ihren Kindern und an der ihnen innewohnenden Unschuld, die ihnen beiden schon zu früh geraubt worden war. Sie wollten die Jungen, die unter ihren Fittichen standen, vor demselben Schicksal bewahren, aber war das überhaupt möglich? Im selben Augenblick jedoch offenbarte Tuana eine Fähigkeit, die er nicht hatte. Das unglaubliche Talent alles, aber auch wirklich alles, gutzuquatschen. Ihr Lächeln war falsch und ihre Argumente die eines optimistischen Narren, der nicht einsehen wollte, dass diese Welt in ihren eigenen Schatten ertrank. Asariel würde schon ihre Gründe haben. Ja, die hatte sie gewiss. Eigennutz. Feigheit. Sehnsucht nach Stabilität, für die ohnehin niemand garantieren konnte. Sie alle hatten ihre Gründe, aber es waren selten noble. Es verwunderte ihn, dass Tuana, jetzt, wo sie die Welt dort draußen gesehen und kennengelernt hatte, noch immer so sprach. Ihr Gespräch über die Ehe lag Ewigkeiten zurück und doch war er sich sicher, dass er heutzutage unter ähnlichen Umständen die genau gleichen Worte von ihr zu hören bekommen hätte.
Anchor durfte in Echtzeit miterleben, wie Tuana etwas empfand und es kurz darauf verleugnete. Sowohl vor ihm als auch vor sich selbst. In ihren Augen stand der blanke Hass. Ihre Muskeln spannten sich an und wäre sie einer seiner Soldaten gewesen, hätte er instinktiv gewusst, dass er sie und Rhíon niemals Übungskämpfe würde ausführen lassen, außer er hatte das dringliche Bedürfnis, ein Blutbad zu veranstalten. Dass seine Cousine zu einem solchen Hass fähig war, überraschte ihn. Er kannte sie als friedliebendes Wesen, aber obwohl sie beteuerte, Rhíon nicht zu kennen, war ihre Abneigung klar erkennbar. Anchor sah sie bloß an. Wenn sie sich selbst belügen wollte, dann sollte sie das tun. Ihn überzeugte sie jedoch nicht mit ihren neutral gewählten Worten.
"Ja", ging er gnädig auf ihren Ablenkungsversuch ein. Er hatte bereits einen Teil seiner Pflichten wieder aufgenommen. Im Laufe der Zeit war es immer mehr geworden—egal, ob man ihm davon abgeraten hatte oder nicht—und bisher schien sein Körper ihn zumindest in diesen Belangen nicht im Stich zu lassen. Vorerst. Dass er die Übungen meistens von einem der besseren Schüler oder einem der erprobten Soldaten vormachen ließ, ließ er dabei aus. Er stand am Rand, sah zu, bellte Befehle und sprach dort Lob aus, wo es angebracht war. Er kannte jeden von ihnen beim Namen, wusste, was ihre Brust vor Stolz blähte, was sie ängstigte und was sie zornig machte. All ihre Stärken und Schwächen waren ihm bekannt und dennoch bezweifelte Anchor, dass er jemals wieder an ihrer Seite kämpfen würde.
"Derzeit wird über die Zukunft der Kinder entschieden." Eine große Aufregung, die der Herbst mit sich brachte. Früher hatte Anchor sich daran erfreut, zahlreiche Jungspunde zu begutachten und ihnen einen Weg aufzuzeigen, der ihnen Pflicht und Loyalität, aber auch Gemeinschaftlichkeit beibrachte. Heutzutage war er sich sicher, dass er in ihren hoffnungsvoll geweiteten Augen bloß seinen eigenen verstorbenen Sohn sehen würde. Und seine Tochter.
"Gut möglich, dass wir dieses Jahr zum ersten Mal Mädchen im Heer ausbilden."
Es gab natürlich Fälle, wie die Familie der Dracas, oder auch Artemis Miles, aber diese Seltenheiten waren in der Familie geregelt worden. Dass sich das nun ändern würde, war offensichtlich.
Tuana
Ein unscheinbarer Brauner, mit zu langen Gliedmaßen und einem zu kleinen Gesicht, eilte herbei und richtete die Beeren wieder adrett her. Zufrieden lächelnd nickte Aaron und hätte vermutlich die Nüstern abermals in ihnen vergraben, wenn da nicht diese lästige Stimme gewesen wäre, die sich trotz allem noch immer zu ihm durchzubahnen versuchte. Theatralisch seufzend verdrehte Aaron die Augen und wandte sich Spartacus zu. Er war zumindest leidenschaftlich, das musste man ihm lassen. Musste man jedoch auch sein, wenn man als Kanonenfutter dienen wollte. Für mehr war er jedenfalls nicht geeignet. Gelangweilt betrachtete er die purpurnen Spritzer auf seinem Fell. Es klebte. Seine dämliche Cousine hätte daraus gewiss ein neues Fashionstatement gemacht. Er würde später dem See einen Besuch abstatten müssen, um sich diese Blamage abzuwaschen.
Als Stille eintrat, sah Aaron wieder auf und betrachtete den Dunkelfuchs, der ihn schwer atmend anstarrte. Anscheinend hatte er seinen Teil gesagt.
"Weiß sie, dass du sie willst?", fragte er gelangweilt. Es war offensichtlich. Die Eifersucht stand ihm auf das hässliche Gesicht geschrieben. Vermutlich hatte er es ihr vor wenigen Nächten voller Inbrunst vorgetragen, seine Liebe beteuert und seine Lust dabei ausgelassen. So wie man es bei Damen, deren Herz man gewinnen wollte, eben tun musste. Und sie? Sie hatte ihn abgewiesen, weil sie ganz genau wusste, dass sie etwas Besseres verdiente als einen Spartacus Licinius. Aarons Miene verzog sich zu teilnahmsvollen Besorgnis. Er machte einen Schritt auf ihn zu, strauchelte ein wenig, hielt sich jedoch auf allen Vieren.
"Hör mal, Kleiner, ich weiß, du hast keine Familie, aber in der hohen Gesellschaft ziemt es sich, anderen zu einer Eheschließung zu gratulieren. Ich habe lediglich für den guten Ton gesorgt und im Namen der Miles eine Kundgebung getan." Nicht, dass Spartacus das verstehen würde. Er würde niemals die Licinius oder die Valerius vertreten. Man musste kein Hellseher sein, um zu verstehen, dass dieser Bursche eher sprach, wie der Pöbel, als ein gestandener Adelsmann. Dass Aarons Worte dabei vollkommen gelogen waren, war unbedeutend. Was zählte, war niemals die Wahrheit, sondern immer nur die Wirkung nach Außen.
"Dein Herz muss schmerzen."
Das falsche Mitgefühl verwandelte sich binnen Sekunden in ein grausames Lächeln.
"Hat es gut getan, mir die Worte zu sagen, die du eigentlich Neptun Acillius entgegenbringen willst?" Genugtuung. Das war es, was er gerade empfand. Dieses Balg hatte nicht den Hauch einer Chance.
"Du kannst sie nicht haben. Geh nach Hause."
Spartacus
Na bitte. Die Zeit des Zierens war verflogen und ihre Schwester nahm endlich die Aufgabe an, mit der man sie geehrt hatte. Es war der perfekte Zeitpunkt, denn der König hatte angefangen öffentlich sein Interesse zu bekunden und nun Gleiches auf dem Gesicht Vestas zu erkennen würde sowohl die feine Gesellschaft, als auch das Volk auf das vorbereiten, was folgte. Eine richtige Ehe. Das, was man sich so lange von dem König erhofft hatte.
"Und ich hoffe, liebe Schwester, dass du das nicht tun wirst."
Sie konnte ihr nicht zusprechen, konnte ihr nicht sagen, dass sie sich sicher war, Vesta würde überzeugen, denn Ceres war überzeugt, dass sie dieser Aufgabe besser gewachsen gewesen wäre. Ihre Schwester war zu flatterhaft, änderte ihre Meinung zu schnell und gab ihren eigenen Gedanken zu viel Gewicht. Fakt war aber auch, dass Vesta wesentlich schöner war, als sie und während das Adelsgeschlecht sich vielleicht noch die ein oder andere unschickliche Kreatur leisten konnte, war es für das Königshaus Pflicht, stattlich zu wirken. Mit Vesta im Stammbaum würde sich die dunkle Farbe der Valerius weitertragen. Eine vertraute Gegebenheit in der natürlichen Ordnung.
Die allgemeine Einschätzung der Gesellschaft bezüglich Karthagos Wesen überraschte sie. Nachdenklich legte Ceres den Kopf schief. Anstatt zu leugnen, was sie hörte, dachte sie noch einmal über ihr Gespräch nach. Grausam? Vielleicht versteckte er seine Tyrannei gut. Die Dracas und die Miles hatten beide einen Ruf, der sowohl imponierte als auch verschreckte. Aber es war eben nur das, ein Ruf. Sie war erwachsen genug, sich selbst als Heuchler zu entlarven, schließlich hatte sie um die Familie ihrer Mutter stets einen großen Bogen gemacht, aber sie kannte jedes einzelne Mitglied der Miles und konnte aus Erfahrung sagen, dass der Großteil von ihnen ihrem Ruf gerecht wurde. Mit den Dracas hatte sie sehr wenig Berührungspunkte gehabt, aber nach einem Gespräch mit Karthago war sie sich bereits sicher, dass seine roten Augen das furchteinflößendste an ihm waren.
Ceres Dracas.
Es klang nicht gut. Aber vielleicht war es auch einfach nur ungewohnt. Von Kindesbeinen an hatte sie gewusst, dass sie eines Tages den Acillius Namen ablegen würde. Sie schämte sich dafür, dass sie als Fohlen aufgrund dieser Tatsache geweint hatte. Wehleidig hatte sie ihren Eltern mitgeteilt, dass der Name ihrer Familie der Schönste unter allen sei und sie es nicht ertragen würde, sich mit dem Namen einer fremden Familie zu verunstalten. Alle Familien war sie damals durchgegangen. Alle. Ceres Miles, Ceres Astoria, Ceres Valerius, Ceres Victus, keiner hatte so gut geklungen, wie Ceres Acillius.
Außer vielleicht...
"Sag, Schwester. Gibt es vielleicht einen anderen Grund für deine Abneigung eines dunklen Ehegatten gegenüber? Einen helleren Grund... mit blauen Augen?"
Ceres blinzelte. Sie war aus ihren damaligen Überlegungen herausgewachsen, ebenso wie aus der Schwärmerei, die sie damals durch die Welt getragen hatte. Für einen tatsächlich sehr hübschen Mann. Aber er war keine Option, wäre es vielleicht gewesen, wenn Ceres nicht in jungen Jahren derart besessen von ihm gewesen wäre. Aber jetzt?
"Schwester, das damals war die Uneinsichtigkeit der Jugend. Wie du sicher weißt, halte ich nicht viel von Gefühlen außerhalb der Ehe, zumal was auch immer ich glaubte, damals zu empfinden, Lucian Astoria nicht länger entgegenbringe."
Nein, aufgrund von so etwas einen Ehegatten auszuschlagen, wäre töricht. Selbst, wenn noch etwas von ihrer jugendlichen Schwärmerei verblieben wäre. Ruhig schüttelte sie den Kopf.
"Er ist eine gute Option, wenn auch keine wünschenswerte. Ich wäre eine Närrin ihn auszuschlagen, nur weil ich insgeheim auf die Gunst eines anderen warte. Ich brauche eine Garantie, kein Märchen."
Vesta
Ah. Da war es also wieder. Ceres sprach und Gaias Stimme quälte sich durch die kühle, frische Luft und versengte sogleich alles in ihrem Weg. Hoffte Ceres es tatsächlich für Vesta oder waren ihre Beweggründe, diesen Gedanken so altruistisch zu hegen tatsächlich jener Natur? War da vielleicht doch mehr die Sorge um ihr eigenes Wohl? Vesta hoffte, dass Ceres Selbsterhaltungstrieb sich nicht nur auf die Familie Acillius und ihren Ruf beschränkte, sondern irgendwo auch ein kleines Bisschen für die rote Stute selbst übrig hatte, die Vesta so sehr liebte, dass es schmerzte. Es schmerzte, diese Worte von den gekräuselten Lippen ihrer Schwester zu vernehmen. War der Vorhang aus der guten Stube der Erziehung so dicht zugezogen, dass sie die wahrhaftige, ehrliche Aufregung im Blick der Braunen nicht vernehmen konnte? Das rapide Schlagen ihres Herzens, das die Stimme soeben noch in höhere Töne getrieben hatte, einen melodischen Singsang der das Davonstehlen ihres Blickes untermalte? Sie war misstrauisch. So lautete Vestas lapidares Fazit aus der Bemerkung der Füchsin und während sie zu diesem Schluss gekommen war, hatten sich ihre Lippen voneinander getrennt, ein kaum merkliches "O" geformt. Jetzt war jenes Zeichen der Verwunderung gestorben und ruhte in betrübtem Lächeln auf dem hübschen Mund. "Gewiss, Schwester." Sie senkte den Blick, ließ ihn entlaufen wie sie es immer tat, wenn es der einfachere Ausweg war für eine Situation, welcher sie sich nicht stellen wollte. Und sie wollte sich dieser Verantwortung nicht mit gebrochenem Herzen stellen. Das wäre in der Tat ein wahrlich trister Neubeginn.
Ceres Antwort, nein, viel mehr die Verwirrung, die ihr Missverstehen in Vesta heraufbeschwor, drängte ihre volle Aufmerksamkeit zurück zur Füchsin. Was, was, was sprach sie denn da? Lucian Astoria? "Lucian?" Das war neu. Das war völligst neu. Hatte Vesta geglaubt, dass ihre Beziehung zu damaliger Zeit noch so eng und fest gewesen war, dass sie alles um das Treiben ihrer Schwester wusste, musste sie nun doch erschreckend feststellen, dass sie sich auch hier getäuscht hatte. Oh Gott. Musste der Abend in so vielen Überraschungen enden? Und sprach sie da von Jugend? Das Gesicht der Braunen fiel in einen Ausdruck blanken Erschauderns. Du bist noch immer jung und uneinsichtig. Vielleicht eine der wenigen Talente der Braunen: ihre Zunge dann im Zaum zu halten, wann angebracht. Sie würde Ceres diese Worte nicht entgegenbringen. Zu oft schon hatte sie versucht ihr zu erklären, dass das Leben mehr war, als die Anforderungen ihrer Familie. So viele Momente hatte sie damit verbracht, ihr von Freiheit und Fantasie zu singen und davon, wie weit Vesta ihre Flügel irgendwann einmal tragen würden. Damals noch, aus kleinem, spitzen Gesicht und großen, funkelnden Augen, hatte Ceres ihren Geschichten gespannt zugehört und ihr wohl geglaubt. Wie schnell war diese harmonische Zweisamkeit vergangen. Plötzlich erkannte Vesta, dass Ceres einen weiten Weg hinter sich gelegt hatte. Jetzt wandelte sie alleine auf einem öden Pfad mit trockenem Boden unter den Hufen und die Braune kam nicht umhin sich zu fragen, ob sie selbst es vielleicht war, die ihre Uneinsichtigkeit aufhielt? Ein Gedankenblitz von warmem Schwarz und sie löste sich von jener verletzlichen Frage.
Erschaudernd, nicht wahr? Dass ausgerechnet sie beiden so gleich sein sollten und doch auf gänzlich unterschiedlichen Wegen liefen. Egal, ob Ceres alleine lief. Vesta würde immer ihr Lied in den Wind obgleich der Empfänglichkeit dessen. Vielleicht war das ihre Art der Acilliusschen Sturheit. Diese Leichtigkeit konnte sie nicht aufgeben.
Einige Damen drängten ihre Herren hastig weiter als jene einen Moment zu lange beim Vorbeiziehen ihren Blick auf die Schwestern hielten. Vesta entgegnete mit höfischem Nicken und dem lauwarmen Lächeln, mit jenem sich Gaia immer sehr zufrieden gegeben hatte. Entgegen dem Schlag ihres Herzens ruhte doch auch auf ihren Gesichtszügen die Maske der Acillius.
Erst als die Gruppe weitergezogen war, richtete sie ihr Wort wieder an Ceres. "Ich wusste nicht, dass Lucian und du..." Sie fand die Worte nicht und brach ab. Ein ander Mal.
"Meine Bemerkung bezog sich auf ein anderes Paar blaue Augen." Und ebenfalls weißes Fell. "Auf einen gewissen Herrn aus dem Hause Aegidius?" Sie neigte das Haupt leicht schräg, schaute die kleinere erwartungsvoll an. "Aber vielleicht täusche ich mich, da du von der Gunst eines Herren sprichst. Oder liege ich vielleicht genau richtig?"
Astoria. Kein Wunder. Der Anblick von Desmond mit ausgerechnet einer Astoria musste schmerzen. Wenn sie denn der richtigen Annahme nach ging.
Automatisch wanderte ihr Blick weiter und hielt sich für einen kurzen Moment bei Anchor und Spartacus auf. Etwas in ihr brannte darauf, den Fuchs aufzusuchen und ein mögliches Missverständnis zu umgehen. Vielleicht, wenn er und Spartacus sich voneinander lösten. Noch einmal würde sie sich nicht dazwischen drängen wollen. Andererseits genoss sie das Bild, welches die beiden miteinander abgaben. Ein ehrliches Schmunzeln resultierte aus den Interaktionen der beiden auf ihrem Antlitz.
Ceres
Er verfluchte Aaron dafür. Ein tanzender Karthago Dracas. Das Raunen, das durch all diese gebährfreudigen Damen huschte, war wie ein Antrieb, gegen den er seine Machtlosigkeit bekennen musste. Diese Blicke, die nun folglich auf ihm ruhten durchbohrten ihn geradezu. Es war eine Epidemie. Hier und da ein Tuscheln, das, oh-wie-konnten-sie-es-ahnen, etwas zu laut gesprochen war. Da ein Blick, da ein Wimpernaufschlag, der an Lächerlichkeit nicht zu überbieten war. Wurde ihm gerade schlecht? Er musste an Tuanas bedauernde Worte über den Zustand seines Kotzens denken und hätte fast gelacht.
Tatsächlich hatte sich eine der Damen aus den Reihen bunter Blumen und gefiederter Pfauen aufgemacht, den Weg zu ihm zu suchen. Vor ihm angekommen verfiel sie in einen höflichen Knicks und umging offensichtlich den leeren Ausdruck in den roten Augen des Rappen. Wie ignorant. Er fühlte sich gekränkt. Als das hübsche, braune Ding endlich zu sprechen ansetzte, raunte er entnervt. "Nein." Sie schrak zusammen, irgendwo kicherte es in Schadenfreude und sein Vater leistete einen neuen Schwur, seinen Sohn zu enterben. Das Adelsmädchen entfernte sich von ihm und augenblicklich starrte Karthago zu Aaron und Spartacus. Er wollte ihm das Genick brechen. Diese neue gewonnene Aufmerksamkeit war die Erfahrung um die Acillius nicht wert gewesen und vor allem aber entflammte es eine ganz neue Wut und Enttäuschung in ihm angesichts seiner Mühen für den blonden Miles Knilch. Er würde seinem Bruder das ganze später unter die Nase reiben. Seine Aufmerksamkeit zog kurz an den Jungspunden vorbei zum Objekt ihrer Begierde. Penthesilea wirkte... glücklich. Zumindest heiter. Etwas wie Erleichterung machte sich in seiner Brust breit. Sein Schwur aber stand: Würden die Acillius ihr nur ein Stückchen dieses neu gewonnen Glückes rauben... Gedanken für später. Alles später.
Sein Kopf drehte sich. Vielleicht war es gut, dass er nichts von diesen Beeren gefressen hatte. Er war uneinsichtig gewesen. Die Heiler hatten ihm gesagt, dass es noch zu früh war, sich voll und ganz ins Getümmel zu stürzen. Wie bedauerlich, dass ihre dienstliche Sorge nur auf taube Ohren stieß. Er hatte also etwas vom Kräutergemisch genommen, gehofft, dass es einer von ihnen es endlich böse genug mit ihm meinte, dass es ihn in die ewigen Jagdgründe schicken würde. Stattdessen war er hier gelandet.
Er seufzte entnervt. Eine weitere wollte sich zu ihm gesellen, als er sich endlich von seinem Platz löste und von Dannen schritt. Er hasste das alles. Was hatte seine Mutter nur an diesen Festen gefunden? Als kleiner Junge war er mit ihr auf diesen Ansammlungen gewesen und so stolz hatten seine Eltern ihren frischen Erben präsentiert. Wie viel hatte man sich von den neuen Generationen nur versprochen. Wofür? Für das hier?
Er wusste nicht wohin ihn seine Beine trugen. Immerhin war er ohne Auftrag voran geschritten, lediglich in der Hoffnung, seinen eigenen Gedanken zu entkommen. Warum war er hier her gekommen. Für Lea? Es war Zeit sich seiner selbst zu besinnen. In letzter Zeit hatten einige gewisse Damen es zu nah an ihn heran geschafft. Zu sehr in seine Gedanken. Sein Kopf dröhnte, ihm wurde schlecht. Hier ein Nicken, da eine Verbeugung, da verängstigte Blicke.
Er wollte sich übergeben - und dann erreichte er die Schatten.
Im Grunde wollte er wohl nur sich selbst entkommen. Sich und diesen merkwürdigen Gefühlen aus Sorge und Empfindungen, die sich neuerdings seiner bemächtigt hatten. Und dann stand er ausgerechnet vor ihnen. Artemis Miles und Nova Odyssey. "Guten Abend." Die übliche Süffisanz war irgendwo auf dem Weg zu ihnen verreckt. Erbärmliches Geschöpf. Ausgerechnet hier fühlte er sich nicht ganz so verloren, wie er es sich eingestehen musste. Wahrscheinlich würde ihn diese falsche Sicherheit früher oder später noch teuer zu stehen kommen. Er entschied, dass er den Preis zahlen würde. Er blickte zu Artemis, etwas beinahe warmes, gezähmtes lag in seinem Blick. Indessen war die junge Valkyre eine der wenigen, denen er sich nicht ungern entgegensah. Und dann war da noch sie. Er hatte ihren Blick nicht vergessen. Und doch stahl sich keine lose Bemerkung über die sonst so lauten Lippen.
Er hatte dem bunten Treiben wortwörtlich den Rücken gekehrt und suchte nun vergebens nach etwas ihm selbst unbekanntem in den Gesichtern der einzigen zwei Damen, die für diesen Abend ehrliches Interesse in ihm geweckt hatten. Wie wehleidig.
Artemis und Nova
Oh.
Ceres war stets davon ausgegangen, dass sie ihre Zuneigung gegenüber Lucian für alle offensichtlich zur Schau gestellt hatte. Jedenfalls offensichtlich genug, um aufmerksame Beobachter von ihrer Gefühlswelt wissen zu lassen. Sie war nun einmal töricht gewesen. Jünger, als Penthesilea jetzt. Ein Alter, in dem man sehr schnell auf Dinge schloss, ohne ausreichend über sie nachzudenken. Die Geschichten von Freiheit, die Lieder über die große Liebe, die Hoffnungen ihrer Schwester, all das hatte sich in einem Klumpen der Idiotie in ihr zusammen geformt und sie hatte all das auf einen einzigen Mann projiziert. Oh, wie peinlich es ihr heutzutage war! Es war jedoch ihr Glück, dass ihr närrischer Geist sich damals Lucian Astoria ausgesucht hatte. Ein Mann mit mildem Gemüt, dessen Worte und Taten nur so sehr schmerzten, wie sie es mussten. Es gab gewiss einige junge Männer, die sich aufgrund fehlender Erziehung daran ergötzt hätten, ihr Herz zu brechen.
"Ich wusste nicht, dass Lucian und du..."
Entsetzen durchzog sie. Lucian und du. Es gab kein Lucian und du. Dachte ihre Schwester womöglich, sie wäre in Ungnade gefallen? Eine schreckliche Vorstellung, aber wie man es von ihr erwartet hatte, hatte sie auch damals stets eine Anstandsdame bei sich gehabt. Außer die ein, zweimal, die sie als junges, dummes Ding zu den Auszubildenden geschlichen war, um sie eine Weile zu beobachten. Aber bei Gott, sie hatte dadurch doch nicht ihre Ehre verloren!
Ceres öffnete gerade den Mund, um Vesta über die tatsächlichen, banalen Geschehnisse in Kenntnis zu setzen, als sie weitersprach. Über ihn.
Ihr Mund blieb offen stehen und sie blinzelte, sah zu Desmond und Nyke Astoria und ruckartig wieder fort, als sie glaubte, Desmond's nächster Augenaufschlag könnte seinen Blick in ihre Richtung führen.
"Das ist… Ich…!"
Glaubte Vesta wahrhaftig, dass sie etwas für Desmond Aegidius empfand? Ihr Gesicht wurde heiß und für einen Moment war ihr, als würden ihre Wangen von den Knochen schmelzen.
"Er ist ein Narr!"
Es brach etwas zu laut aus ihr heraus und sie senkte augenblicklich ihre Stimme.
"Wir führten ein anregendes Gespräch, das ist wahr. Und ja, in der Tat, ist er einer der heiratsfähigen Männer in unseren Kreisen, aber er hat mir lediglich geholfen. Ebenso, wie seine Cousine, wohlgemerkt. Er verkehrt mit zu vielen Damen und hält zu viel von sich selbst. Zudem hat er versäumt sich unter den Kandidaten, die er mir vorschlug, selbst zu erwähnen. Dementsprechend scheint kein Interesse vorzuliegen."
Und das war vollkommen in Ordnung. Sie hatte Desmond bereits gesagt, dass er für sie nicht infrage kam, wenn auch eher aus purem Trotz, als aus reichlicher Überlegung.
"Wie ich bereits sagte, bringt es mir nichts über ein Vielleicht nachzudenken. Ich brauche Gewissheit und Desmond ist so sprunghaft wie das Wetter im Frühjahr. Selbst, wenn ich ihn in Betracht ziehen würde—was ich nicht tue—wäre er keinesfalls gut genug, um ihn mit anderen Anwärtern zu vergleichen. Ich vergleiche mit meinen Ansprüchen und meine Ansprüche sind ein Ehegatte, der..."
Sie verstummte.
"Du weißt, was meine Ansprüche sind", wimmelte sie Vesta plump ab.
Vesta
Oh, damit wusste Vesta nicht umzugehen. Ihr Blick löste sich von Anchor Aegidius. Nun, wurde quasi von ihm fortgerissen. Diese Reaktion hatte sie nicht beabsichtigt und sogleich fühlte sie sich schlecht für die zuvor geplante Intrige. Ihr Verantwortungsgefühl wollte beschützend einen Schleier um ihre Schwester hüllen. Ceres sprach so offensiv und doch waren ihre Ausdrucksweise, das Hochjagen der sonst so ruhigen Stimme, das Verziehen der Mimik, die Art wie ihre Augen sich weiteten und wie gehetzt sie in Richtung des Schimmels und der jungen Astoria blickte, so verräterisch. So... eindeutig?
Vesta wusste dieses Sperrfeuer nicht zu handhaben und sah sich machtlos ihrer Schwester und ihrer wirren Gefühlswelt ausgeliefert. Verloren blinzelte sie schneller als notwendig, folgte den hastigen Blicken Ceres' und suchte nach dem richtigen Zeitpunkt, ihrer Kanonade Einheit zu gebieten. Sonst würden sie sich früher oder später wieder unter dem rauen Kommando ihrer Großmutter oder Mutter wiederfinden und dazu hatte sie diesen Abend bislang doch zu sehr genossen.
"Ruhig, du Närrin." Schalt sie und erschrak sich ob ihrem ungewohnten Ton. Endlich endete ihre Tirade nachdem ihr Herz wohl keine weiteren Worte gefunden hatte. Was auch immer dies gerade gewesen war, Vesta hatte soeben einen Blick hinter die Fassade werfen können.
War es Schmerz, begründet in einer Kausalitätskette, derer Vesta sich emotional schon früh genug entzogen hatte? Waren es ehrliche Gefühle, die sie Desmond gegenüber hegte? War es Bedauern, ganz gleich in welcher Hinsicht, ihrer Relation Lucian gegenüber, die ihr den Sinn so ketzerisch formte?
In ihr brannte das Verlangen ihre Schwester zu umhalsen. Stattdessen lehnte sie sich in einer fließenden Bewegung vor, sammelte eine abtrünnig gewordene Strähne in gleißendem Rot wieder ein und legte sie zurück zum seidigen Vorhang, der sich sanft über die Stirn der Füchsin legte. Sie tat es nicht, weil sie so viel Wert auf diese Kleinigkeiten legte, sondern weil sie ihr bewusst war, wie wichtig es Ceres selbst war. Die Braune hielt inne, begutachtete die jüngere für einen Moment. Sie hatte dieses grelle Rot einst gefürchtet. Jetzt bemerkte sie, wie sehr sie das flammfarbene Licht liebte.
"Ja. Ich kenne gewiss deine Ansprüche." Tat sie das? Zumindest jene, die Ceres nach außen zu geben bereit war. Aber ihre wahren Gefühle? Ihr kleiner Ausbruch eben hatte ihr gezeigt, dass dort vieles in einem Hinterzimmer lauerte, von welchem sie bis dato nichts gewusst hatte. "Dein eigenes Interesse aber..." Was tat sie hier? Sie verlangte Ehrlichkeit und spielte selbst mit verdeckten Karten. Sie bereute ihr kleines Spielchen, welches sie in die Wege geleitet hatte zutiefst. Welch närrische Königin würde sie abgeben. So weich und unüberlegt. Das müsste sie ändern. Zu den Konsequenzen ihres Handelns aber stand sie. Also entschloss sie sich dazu den ersten Schritt zu gehen - auch wenn sie dies vielleicht bereuen sollte.
Ein verstohlener Blick, eine fließende Bewegung und sie führte ihre Schwester kaum merklich einen weiteren Schritt fort vom Geschehen.
"Ich könnte nichts von dir verlangen, was ich selbst nicht bereit bin zu zahlen. Also..." Sie holte Luft. Damals hatten sie alle Geheimnisse geteilt. Vielleicht war es Zeit, diesem nicht länger hinterher zu trauern, sondern lediglich anzuknüpfen. "Ich mag ihn. Wirklich. Nicht, weil ich endlich die Anforderungen unserer Familie damit erfüllen kann. Nein, Ceres. Ich mag ihn. Denn ich glaube er ist fähig, mich zu sehen." Nicht Vesta Acillius. Nur Vesta.
"Deine Gespräche mit Desmond," führte sie weiter. "Bist du ehrlich mit dir angesichts deiner Empfindungen? " Eine Wahrheit für eine weitere. Sollte Ceres davon halten was sie wollte. Vesta würde zumindest mit sich im Reinen sein wollen. Sie könnte anders nicht weitermachen. Ihr Vertrauen in sich selbst war das einzige, was sie über Wasser halten konnte. Hätte sie sich selbst aufgegeben... sie glaubte nicht, dass sie eine Chance auf Glück hätte.
Ceres Schwesterherz
"Ruhig, du Närrin."
Wie ein Paukenschlag hallten diese Worte in ihr wieder. Ihr Körper straffte sich und ihre Ohren wurden so spitz, wie nur irgend möglich. Obwohl sie im Geiste ihre Schwester als ihr untergeordnet abgestraft hatte, reagierte sie augenblicklich auf ihre Worte. Ihren Tonfall. Er kam dem Gaias so nahe und erinnerte mehr an eine strenge, ältere Schwester, die sich an die Gepflogenheiten der Gesellschaft band, als an ihre eigene, der Freiheit so zugetane Vesta. Und obwohl es so ungewohnt war, obwohl es beinahe fremd wirkte, reagierte Ceres augenblicklich. Und das voller Elan, immer dazu bereit, mehr von ihnen zu lernen. Jenen, die besser waren als sie, die dort waren, wo sie hin wollte. Hin musste.
Vesta strich ihr sanft, beinahe entschuldigend, eine Strähne zur Seite und obwohl Karthago soeben genau dasselbe getan hatte, empfand Ceres hier mehr. Zuneigung, Dankbarkeit, aber auch Schmerz. Wann hatte ihre Schwester ihr das letzte Mal die Haare gerichtet? Natürlich war Ceres der Überzeugung, dass sie es selbst besser konnte. Sie, oder die Anstandsdamen. Dennoch löschte dies nicht die Erinnerungen an Tage aus, in denen es Vesta gewesen war, die sich liebevoll um ihr Äußeres bemüht hatte.
"Natürlich kenne ich meine-"
Vesta sprach weiter. Und das, was sie da sagte, kam beinahe einem Betrug gleich. Was gab sie da von sich? Sie mochte ihn? Wirklich? Diese Art mögen hatte Ceres nicht gemeint, als sie auf die Zugeneigtheit des Königs zu sprechen gekommen war. Genau das galt es zu vermeiden. Sich kopflos in Gefühle zu stürzen, die ohnehin nur in Hirngespinsten begründet lagen.
"Und dem bist du dir sicher, nachdem du einmal mit ihm getanzt hast?", fragte sie zweifelnd. Wie lachhaft! Soeben noch hatte sie ihre Schwester bewundert, dafür, was für eine großartige Figur sie abgegeben hatte. Und jetzt stellte sich heraus, dass sie dies nur vollbracht hatte, indem sie sich ein weiteres Märchen in ihrem Köpfchen gesponnen hatte. Nero Valerius war der König! Er war kein Mann, der sie sah, er war ein Mann, der ein Land führte. Er hatte keine Zeit, jemanden zu sehen. Vesta war seine Stütze, kein Geheimnis, was es zu erforschen galt. Auf gar keinen Fall eine Ablenkung! Sie würde ihm Erben schenken, das war ihre Aufgabe. Ceres befürchtete, dass Vesta begonnen hatte, ihre Aufgabe zu akzeptieren, weil sie sich eine Liebesgeschichte erhoffte.
Was sollte sie dazu sagen? War es gut, war es schlecht? Unbedeutend, entschied sie. Solange der König Gefallen an ihr fand und Vesta ihm treu blieb, war alles andere nichtig.
Aber sie wird sich mit diesen Hoffnungen in ihr eigenes Unglück stürzen.
Egal, beharrte sie. Alles egal. Solange sie nur ihr Schicksal erfüllte. Ceres wünschte, dieser Gedanke hätte sie nicht so schrecklich traurig gemacht.
"Vesta, ich möchte jemanden, der bereit ist, mit mir eine Familie zu gründen, um auf eine gute Zukunft hinzuarbeiten. Das erfordert Fleiß und Kompromisse. Weder Exzentriker noch Witzbolde stimmen charakterlich mit diesen Vorstellungen überein. Ich brauche jemanden, der mir zuhört, mit dem ich diskutieren kann und der mit mir an einem Strang zieht, wenn es um unsere Kinder geht."
Und Desmond war all das.
Sie hasste es, wie sie jedes Mal an ihr Gespräch dachte. Ein einziges Gespräch genügt nicht, um zu einem Schluss zu kommen. Schon gar nicht zu einem so wichtigen!
"Ich werde es dir beweisen", stellte sie schließlich klar, sprach sowohl zu ihrer Schwester, als auch sich selbst. "Noch heute Abend werde ich ein Gespräch mit Desmond beginnen und danach werde ich dir fünf Gründe nennen können, warum eine Ehe zwischen uns einer absoluten Katastrophe gleichen würde."
Schwesterchen
07-03-2024, 05:04 PM
(Dieser Beitrag wurde zuletzt bearbeitet: 07-03-2024, 05:05 PM von Chou.)
"Und dem bist du dir sicher, nachdem du einmal mit ihm getanzt hast?"
Sie verstand die tiefliegender Präsupposition hinter den Worten. Und dieser konnte sie nichts entgegenbringen. Es würde keine Worte geben, die Ceres die erwünschte Genugtuung bringen konnten. Ceres, oder Gaia? Denn immer noch, so oft, viel zu oft, war es das Drängen der alten Acillius, welches in ihrer Schwester aufbegehrte und versuchte so hoch zu fliegen, dass Vesta sie niemals erreichen würde. Unwillkürlich musste sie sich fragen, ob auch ihre Großmutter einst solche Unterhaltungen geführt hatte. War sie abseits des Geschehens gestanden und hatte die verlebten Szenen Revue passieren lassen? War sie selbst nicht mehr als ein kleiner Teil eines größeren Plans gewesen, dem Gebaren größerer Mächte unterliegend und nur darauf lauernd, sich ihr eigenes Glück zu errichten? Womöglich hatte Vesta ihre Großmutter bislang immer nur falsch verstanden. Und dennoch konnte sie nichts tun, als gegen das laue Gefühl anzukämpfen, das ihr nach und nach die Luft zum Atmen nahm. Es war nicht recht. Der Zweck heiligte nicht die Mittel. Sie hatte es so oft bei anderen Familien miterlebt. Diese Dinge, die hinter verschlossenen Türen geschahen und dann doch einen Weg in die Ohren der Gesellschaft fand, waren unrecht. Das konnte nicht die alte Kultur und Tradition sein, von der sie stetig Predigen erdulden musste. Und wenn dem so war, wollte sie zumindest glauben, dass selbst die klügsten Köpfe sich auf ihren Pfaden einst verirren konnten.
Diese Gedanken verwerfend, war ihr bewusst, dass sie ihre Ansichten nicht an verklärte Ohren drängen konnte. Wer letztlich wohl die verklärtere der beiden war? "Du wirfst mir vor, was du selbst verleugnest." Ein fahler Ton. Nicht so schroff wie eben, als sie ihrer Schwester den Deckmantel wieder um die Schultern legte, dennoch bestimmt. "Dabei bist du es selbst, die sich in ihrem Urteil nach einem Gespräch so sicher wähnt." Wahrlich. Ein Spiegel zweier Galaxien. Sie war sich plötzlich sicher: wäre Vesta mehr nach Gaia gekommen, so wäre es Ceres gewesen, die die Flucht vor aller Pflicht ergreifen wollte. Die Waagschalen schaukelten und dabei war es völlig gleich, in welcher der beiden sich welche Schwester befand.
"Ich fühle, Schwester." Die Stimme wurde sanfter, entschuldigender und dabei schlich sich selbst so etwas wie eine Bitte um Vergebung und Verständnis in ihren Ton. Jemand musste sie daran erinnern, dass auch die Kinder dieses guten Hauses mehr als nur ausgestopfte Puppen waren. Da war mehr als nur Pflicht und Ehre. Ein schlagendes Herz sollte nicht den eigenen Rhythmus vergessen müssen. "Weshalb sollte man es mir verübeln? Ich spreche nicht von Liebe. Entgegen eurer Annahmen bin ich nicht so töricht, mich zu verrennen. Aber warum sollte ich nicht zu meiner Sympathie ihm gegenüber stehen, wenn sie Spross purer Aufrichtigkeit ist? Sollte sie mir auf meinem Weg wirklich so schaden? Es ist ungerecht, mich so vorschnell zu verurteilen."
Da. Endlich war es gesagt. Ceres sollte davon halten was sie wollte. Sie alle sollten das. Sie war kein dümmliches, kleines Mädchen mehr und sich dessen wohl bewusst, dass dieser eine Tanz kein Schicksalsschlag war oder sie sich nun einreden durfte, den König wahrlich zu kennen. Sie war lediglich erleichtert, dass es Wärme war, welche sie empfangen hatte. Eine warme, willkommene Brise und kein kaltes Eisen um ihre Glieder. Sie würde nicht akzeptieren, dass diese Empfindung falsch sein sollte.
Sie seufzte und ließ die Schultern sacken. Die Braune verstand die Wünsche ihrer Schwester. Sie ertappte sich dabei, diese sogar bestens nachempfinden zu können. Sie verstand lediglich nicht, weshalb dieser Wunsch lediglich unter Zwang und kühlem Schauspiel Erfüllung finden musste. Wenn er das überhaupt konnte.
"Oh, du!" Neckisch stupste sie das rote Fell an, der geschwungene Hals sogleich wieder die aufrechte Haltung findend. "Also gut. 5 Gründe, Ceres. Du bereitest dich besser darauf vor. Denn wenn ich gewinne, solltest du nicht vergessen, dass ich eines Tages Königin sein könnte. Und meine Strafe soll fürchterlich sein!"
Ein hallendes Lachen zwischen zerberstenden Spiegeln.
Cereslein <3
Es tat gut mit Ares zu reden. Mit jeder Sekunde, die verstrich, fiel etwas von der schweren Anspannung von ihren Schultern und es wurde leichter, dem Drang der Flucht nicht nachzugeben. Am liebsten hätte sie tief ein und aus geatmet und etwas Ruhe darin finden wollen aber stattdessen konzentrierte sie sich auf das Gespräch mit dem Herrn Licinius. Er schien nicht die Art von Person zu sein, welche sein Interesse lediglich vorgaukelte und dieser Gedanke war beruhigend, versöhnlich und erfrischend. Sie fühlte sich geschmeichelt, dass Ares Licinius keinen Hehl daraus machte, ihr gegenüber keinen Argwohn zu hegen. Im Gegenteil. Aus seinen Fragen ging ehrliches Interesse an ihrem Befinden hervor.
Sie erinnerte sich an das erste Gespräch, welches sie jemals mit ihm geführt hatte. Er schien tatsächlich besser. Natürlich vermutete sie nicht, dass er stetig und überall einen weiteren dieser, nun, Anfälle erleiden mochte aber als jene Person, die ihrem Körper nun einmal innewohnte, konnte sie nichts gegen die Sorge tun, die bei der Erinnerung in ihr aufkeimte. Immerhin in dieser Hinsicht würde sie sich treu bleiben.
Umso erfreulicher war es zu sehen, dass es ihm wohl tatsächlich bessern gehen sollte. Deutlich besser, betonte die tiefe Stimme und Erleichterung zog ein. Sie lächelte mild.
War es notwendig, ihm mitzuteilen, dass sie dieser Umstand aufrichtig erfreute? Sie glaubte nicht. Mit Ares fühlte es sich nicht so an, als sei es von Nöten, ihm jeden ihrer Gedanken zu offenbaren. Er hatte sie damals schon verstanden und sie dachte nicht, dass er plötzlich an seinem Verstand eingebüßt haben sollte.
"Aber es freut mich, dass du hier bist." Er war kein Lügner, rief sie sich in Erinnerung. "Es ist tatsächlich schön, euch unter anderen Umständen wieder zu sehen." Jetzt hatte etwas von ihrem Lächeln ihre Augen erreicht. "Aber ich bitte um Korrektur. Tatsächlich möchte ich genau hier sein, um eben jenen Mut zu beweisen. Passt auf." Ein betontes Räuspern, die Augen schlugen überschwänglich zu und auf und ihr Körper richtete sich in jener überbrünstigen Manier auf, die man von den jungen, ledigen Damen erwartete. "Da, seht ihr. Ganz die alte, nicht?"
Einige der anfänglich verwirrten oder vielleicht überraschten Blicke hatten sich rasch von ihr abgewandt, als man sie im Gespräch mit Ares gesehen hatte. Sie hatte die letzten Tage viel mit sich selbst und ihren Gedanken verbracht und war folglich zu einem Schluss gekommen, hatte ihren gesamten Mut gesammelt und sich hier her begeben. Und doch hatte Ares Recht. Sie wäre wahrlich lieber über all außer hier und etwas in ihr ahnte, dass sie dies vor ihm nicht verstecken konnte. Nicht, dass sie sich sonderlich darum bemühen wollte. Ein weiteres unausgesprochenes Geheimnis zwischen ihnen, wenn man so wollte.
Ihr Haupt senkte sich leicht und ihr Blick wanderte umher. Desmond und Nyke, Ceres und Vesta, Ezrael und Sayirah, Tuana und Anchor. Gesegnetes Kind hatte den feindlichen Blick der Schimmeldame nicht mitbekommen und doch huschte ihr Blick hastig weiter. Sie würde sich Tuana irgendwann stellen müssen. Nicht ihrer alten Geister wegen, sondern dem, was vor ihr lag.
"Danke, für eure Worte, Ares. Auch damals. Ihr habt zu diesem Mut beigetragen." Sie neigte das Haupt in einer respektvollen Geste und bedeutete ihm ihre ehrliche Dankbarkeit.
Gott, sie war ihm dankbar aber hier in dieser Aufmachung und unter diesen Umständen war das Treffen doch beinahe peinlich. Immerhin war sie, wie erwähnt, ledig - und er nicht. "Ich hoffe, ihr konntet den Abend bereits gebührend einleiten?" Nein, nein. Das war falsch. Ganz falsch.
Ihre Augen weiteten sich in Überraschung. "Verzeiht! Das war salopp formuliert." Sie schüttelte das Haupt. "Ah, ich schätze Small-Talk verlernt man wohl doch mit der Zeit."
Ares
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