18. Sommer 82, Kurz nach Sonnenuntergang | See | Tuana Licinius, Nurija
Langsam breiteten sich die Schatten aus, denn die Sonne die am heutigen Tag unterging, nahm auch all die Finsternis mit sich, die diese Zeit mit sich brachte. All die verstorbenen Seelen, diese schrecklichen Taten , die sich in ihr drin auftatet.
Sie waren immer noch nicht wieder da, Nero und Echo, Ares und Isaak. Auch wenn so viel Zeit derzeit dazwischen vergangen waren, hatte Tuana ihren Ehemann immer noch nicht wieder in die Arme schließen können.
Aber auch von Nurija und Nefes fehlte jede Spur. Tuana bete mal Laut mal Leise mittlerweile an irgendein einen Gott, der sie einfach nur erhören möge, dass den Stuten nichts passiert sei. Die nähe zu Romana konnte sie derzeit nicht ertragen und auch zu den anderen Stuten schien sie keinen Nerv warm zu haben. Einfach die Gedanken an die graue Stute, die sie all die Zeit bei Silas auf eine im Nachhinein betrachtete sehr krankhafte Art mögen gelernt hatte. Nicht dass sie je hätten enge Freunde werden können, wobei das durchaus noch offen zu sein schien – sofern die das Inferno des Erdbodens heute überlebt hatten – aber Tuana wünschte der grauen Schönheit eine Freiheit, die sie nie in Betracht gezogen hatte, dass jene hier in diesem Tal existierte. Eine bessere für einen eigennützige Freiheit.
Das sie nicht mehr hier bleiben konnten war ihr spätestens nach den vielen Leichen auf der Steppe bewusste und sie beteuerte es sehr. Kurz drifteten die blauen Iriden unheimlich traurig auf das Gebirge. Dort waren ihre Eltern begraben. Von tonnenschwerem Gestein, aber sie waren da. Lazarus. Eine einzelne Träne rann für ihren verstorbenen Bruder die Ganasche herunter. Eine Träne die zu den vielen des heutigen Tagens aus ihrem Körper schlüpfte und den Weg der tausend vor ihr rollte. Dass sie überhaupt noch Nässe für das weinen entwickeln konnte.
So stand sie da, während die Sonne den Mond begrüßte und sich dann selber zum Schlafen über die Felsen nieder legte. Sie würde zum Ozean wandern und sich dort in das nasse unendlich tiefe Bett des Meeres legen. Leichte schritte drangen von vorne an ihr Gehör heran und sie hob den Blick auf ein paar herannahende Pferde.
Eine der Stuten war auf dem Schlachtfeld zurückgeblieben. Schluchzend hatte sie sich zu Boden gleiten lassen und immer wieder den Kopf geschüttelt, als Cassanda versucht hatte sie aufzurichten. Nurija hatte sie augenblicklich aufgegeben. Sie wollte aufgeben, also ließ Nurija sie aufgeben. Vielleicht wäre einer dieser trotteligen Optimisten wieder zurückgegangen, oder einer der selbsternannten Helden, wie Romana es war, wäre gar nicht erst weitergegangen, aber Nurija hatte gespürt, wie der Rauch ihre eigene Kehle kratzen ließ, ganz zu schweigen von jenen, die mit zitternden Beinen an ihrer Seite liefen. Nurija hatte sie zurückgelassen. Die Alten gaben das Tempo vor und es war gelinde gesagt, langsam. Die Sonne senkte sich zum Horizont herab und erst, als das letzte Licht fast erloschen war, erblickte sie weitere Pferde in der Ferne. Irgendwelche Klepper, mit gehetztem Blick und einem Büschel Kräuter im Maul, huschten zwischen den Fremden hin und her. Nurija blieb stehen. Das einer dieser Kräuterheinis sie und die anderen jetzt antatschte und ihnen Giftpflanzen unterjubelte, hatte ihr gerade noch gefehlt. Dann jedoch erblickte sie sie.
Die naivste der Naiven, Tuana von und zu, eigens ernannt Hüterin über das heilige Valeria. Nurija spielte mit den Ohren. Wenn sie hier war, geschah den anderen nichts, davon konnte sie ausgehen. Tuana war viel zu sehr um das Wohl aller besorgt und wenn Cassanda verlauten ließ, dass sie jemanden hatten zurücklassen müssen, würde sie wahrscheinlich auch noch versuchen eben jene verlorene Seele zu retten. So war sie eben, treudoof und zu überzeugt von dem Alles-wird-Gut-Gequatsche. Dass Nurija irgendwo froh war, dass diese Märe überlebt hatte, musste sie ja nicht wissen. Nurija hatte nicht vergessen, wer zu ihr gehörte, ebenso wenig Tuanas Kompetenzen, so spärlich sie auch vorhanden sein mochten. Die übrigen Stuten sahen unsicher zu ihr, abwartend und verängstigt und Nurija nickte ihnen gnädig zu. Sollten sie trinken und sich eben ausruhen. Wenn ihnen hier etwas passierte, dann hatte Tuana das geschafft, was nie jemand vor ihr geschafft hatte und sie mit ihrem Wir-haben-uns-alle-lieb-Monolog gewaltig hinters Licht geführt. Nurija trat selbst an den See, senkte den Kopf um zu trinken und spucke das Wasser augenblicklich wieder aus. War ja widerlich.
Anstatt sich weiter mit dieser unzulänglichen Variante von Flüssigkeit abzugeben, trat die Graue auf Tuana zu. Sie musste ja förmlich frohlocken endlich wieder in ihrem heiligen Valeria zu sein. Sah nicht ganz so heilig aus, wie sie geglaubt hatte, aber anscheinend hatte jeder andere Ansprüche an das Leben. Tuanas waren wohl noch unterirdischer, als sie anfänglich geglaubt hatte.
„Ich hatte mir mehr von deinem Land der Wunder versprochen.“ Vielsagend sah sie sich um. „Leichen, die den Boden schmücken, Feuer, damit es im Sommer auch ja nicht zu kalt wird und Wasser mit Asche-Geschmack. Richtiger Luxus.“
Nicht alle hatten es geschafft. Tuanas Herz wog schwer bei diesen Gedanken, Stuten zurück lassen müssen. Leben war heilig und manches mal musste man es einfach etwas bedrängen, aber die helle Stute sah in den Gesichtern der andere und erkannte, wie anstrengend es für sie war. Sollten sie ein wenig ankommen, ausruhen. Die Licinius machte keine Anstalten ihnen entgegen zu kommen, viel mehr beobachtete sie die Anführerin. Der Weg zum See und die Blicke der anderen. Sie nickte ihnen zu und achtete selber ein wenig darauf, dass keiner der umstehenden sie zu dem Wasser hin blockieren würde. Jeder hatte derzeit etwas anderes zu tun. Ein wenig verwirrt über die Reaktion nach dem Wasser betrachtete sie den See skeptisch. Wurde der Geschmack intensiver? Würde Gott sie bestrafen, dass dies alles so geschehen war? Dass sie gute Pferde vernichtet und die seinen Regeln gebrochen hatten?
Langsam blickte sie wieder gegen das Gebirge, an dem Ort wo ein teil ihrer Familie verborgen unter Gestein lag. Nun tauchte es in die Dunkelheit und mit dieser kam das rote Licht von Glut und Feuer. Von hier aus sah es aus, als hätte das Gebirge blutige Adern, als würde es sich bald erheben, wie ein lebendes Wesen.
Tuana zuckte zusammen, als die die Stimme der grauen Stute neben sich war nahm. Kurz blickte sie die Graue an, brachte ein leichtes, sachtes Lächeln zu Stande, als der Sarkasmus von ihren Wörter in ihr Herz tropfte, dort zustach und wirklich schmerzhaft zu pochen begann.
“Es freut mich, dass ihr Heil hier her gefunden habt.“ begann sie mit rauer stimme die von dem vielen Weinen zeugte, welches in den letzten Stunden wohl zu einem Teil von ihr wurde.
Tuana wusste nicht, wieviel die Stuten gesehen oder ertragen hatten.
“Nurija...“ begann sie dann, trat von einem Fuß auf den anderen und blickte sie seitlich an. “Der Krieg ist vorbei. Silas ist gefallen...“ mehr wollte sie erst mal nicht sagen. Die Stute wusste nicht, wie die andere mit dieser Information umgehen konnte. Ob sie sich darüber freute oder am Boden zerstört war.
Immerhin war sie mehr und weniger freiwillig zu ihm ins Bett gestiegen und hat sich die dunkle Krone aufsetzen lassen.
Es würde eh noch spannend werden, wenn Nero denn dann endlich mal hier auftaucht und die restlichen Soldaten Silas zur Rede stellt. Für alle beteiligten hoffte die Helle wirklich, dass sie sich auf ihre Seite schlugen.
Vor allem aber hoffte sie es für die Stuten.
Für Nefes... Nurija.
Erwartungsvoll spitzte Nurija die Ohren, wartete darauf, dass ihre Worte sich in Tuanas Geist gruben und sie reagieren ließen. Vielleicht würde sich ihr Gesicht vor Schmerz verziehen, vielleicht würde sie aber auch endlich die Ohren in den Nacken legen und wütend werden. Nurija fragte sich, wie der Zorn auf ihrem Gesicht wohl aussehen möge. Sie konnte es sich kaum vorstellen, die treudoofen Augen klein und grausam, die Nüstern gebläht. Tuana könnte mächtig wirken, respekteinflößend. Die Vorstellung hatte fast etwas Schönes.
Aber natürlich tat Tuana das genaue Gegenteil. Selbst im Angesicht ihrer zerstörten Heimat, der sterbenden Freunde und ihrer wohl platzierten, grausamen Worte, tat sie das, was sie immer tat. Sie lächelte und war freundlich. Wie viel Anstrengung dieses Getue wohl erforderte? Oder war sie wahrhaftig so genügsam und zuvorkommend? Sie konnte es nicht glauben, kaufte ihr diese Masche selbst nach all den gemeinsam durchstandenen Strapazen nicht ab. Ein gütiges Herz bedeutete nicht die Abwesenheit von Zorn und hätte Nurija an Tuanas Stelle gestanden, hätte sie jede noch so nichtige Kreatur ihre Unzufriedenheit spüren lassen.
„Mhm“, antwortete sie schlicht. Das dumme war, dass sie es der dullen Kuh sogar glaubte. Nurija hatte nicht vergessen, dass es selbst in einem fremden Land voller fremder Gesichter ihr erster Instinkt gewesen war, zu helfen. Vielleicht versprach sie sich etwas davon, setzte auf das alte Wie-du-mir-so-ich-dir-Prinzip, aber Nurija hatte gesehen, wie schnell sie agierte, wie wenig sie über das Für und Wider nachdachte. Sie tat das, was sie für das Richtige hielt und anscheinend war das für sie richtige sich von anderen ausnutzen zu lassen und konstant Freundschaft und Gemeinschaftlichkeit anzubieten, selbst wenn diese ungewollt war.
„Silas ist gefallen…“ Nurija achtete darauf, ruhig weiter zu atmen, hielt ihren Körper aufrecht und veränderte ihre Haltung so wenig wie möglich. Sie konnte die Sorge förmlich riechen, die der Hellen aus den Poren suppte. Sie war nicht schwach, sie brauchte keinen Beistand. Was glaubte sie? Dass sie schluchzend vor ihr zusammenbrach? Sie war eine aus Schmerz erschaffene Göttin, keine verweichlichte Witwe. Irgendwie hatte Nurija es auch geahnt. Sie kannte Silas mittlerweile gut genug, um zu wissen, wie er strategisch vorging. Kannte, merkte eine kleine Stimme in ihrem Inneren an. Impulsiv war er gewesen, gierig, mit dem Blick immer auf das Ziel gerichtet und nicht auf die äußeren Einflüsse. Vielleicht hatte sie schon in der Nacht davor gewusst, dass er scheitern würde, sich davor gefürchtet, oder darauf gehofft. Sie wusste es selbst nicht so genau.
„Tja“, sprach sie, die Stimme seltsam rau. „Ich schätze ich war schon immer stärker als er.“
Tuana blickte zuerst gerade aus. Wollte nicht sehen, wie die Graue mit sich und ihren Gefühlen kämpfen musste. Aber dann, als sie ihre ersten Worte sagte, blickten die blauen Augen doch zu der Grauen. Stärker als er.
Mit einem neigen ihres Kopfes, blickte die Fliegenschimmeldame zu ihrer ehemaligen Anführerin. Dann begann sich ein Lächeln auf ihre Lippen zu schieben, sanft und mutig.
“Das denk ich auch Nurija!“ bestätigte sie der Grauen und hob dann den Kopf. Ihre Ohren gespitzt nach vorne gerichtete, der Schopf offen auf die Seite sodass beide Augen ohne Vorhang die eine Hauptdarstellerin erfassen konnte.
“Was wirst du als nächstes machen? Bleibst du bei uns?“ es war eine wirklich ernstgemeinte Frage. Man konnte die Hoffnung und Zuversicht heraus hören, wie sie nach einem griffen und eng an sich binden wollten.
“Hier sind eine Menge Stuten die eine erfahrene Anführerin gebrauchen könnten. Du wirst sicherlich einen Platz bei uns finden und füllen können.“ Tuana lächelte leicht. Sie wollte wirklich dass Nurija bleibt. Auch wenn das Schattenbiest garstig und manches Mal ihr selbst Dunkelheit einflößte, dachte Tuana mit Schrecken, so mochte sie diese eiskalte, zutiefst eigenständige Person doch sehr. Irgendwie war Nurija zu etwas herangewachsen in Tuanas Augen, von dem sie ein paar Krümel lernen konnte. Stark und Stolz zu sein auf dem, was man tat und war. Natürlich würde das derzeit vor der grauen Schlange geheim bleiben, denn schließlich wog da immer noch ein Göttinenherz in ihrer Brust, welches der Taube im Käfig gar nicht gefiel, aber das würde sich doch bestimmt legen mit all den Persönlichkeiten die von ihnen her gegeben waren?
Das denke ich auch, Nurija, äffte sie die Helle in Gedanken nach. Natürlich dachte sie das. In ihrer Welt siegte das Gute stets über das Böse und sie war Tuanas Ansicht nach wohl einfach barmherziger, als der Tyrann, der sie heimgesucht hatte. Etwas Feindseliges erwidern konnte sie jedoch nicht. Dafür glitzerten die Augen ihres Gegenübers zu sehr. Nurija fragte sich nicht zum ersten Mal, wie stark jemand sein musste, um sich jemandem wieder und wieder zu öffnen, egal wie viel Hohn und Hass man für dieses Verhalten auch zurückbekam. Stärke oder Dummheit. Vielleicht brauchte man auch einfach beides.
Nurija seufzte und sah zu den Verbliebenen. Das waren sie schließlich, nicht? Tuana und die anderen Valeria-Tanten konnten vielleicht erahnen, wie es auf der anderen Seite gewesen war, aber dieses Leben wirklich gelebt hatten nur sie und wenige andere. Mit Freiheit konnte sie, konnten sie alle, nichts anfangen. Manch ein lächerlicher Dummschwätzer mochte danach streben, aber Nurija wusste, dass die Einsamkeit keine wirklichen Herausforderungen barg. Darüber hinaus herrschte eine Göttin über mehr, als nur sich selbst. „Ihr gehört mir“, sprach sie ruhig. „Ich habe vor Silas geschworen, euch zu beschützen und zu leiten, ob nun mit in gutem oder bösem Willen. Ich habe es mir selbst geschworen, also bin ich jetzt ganz sicher nicht so feige und verschwinde.“ Jetzt fing der wahre Test doch erst an. Und sie würde sich beweisen, das schwor sie sich. Mit Nachdruck schob sie all ihre Gedanken an Silas und die vergangenen Tage von sich. Wenn sie an alten Geschehnissen festhielt, dann war sie nicht besser als Nefes, die sich aus Trauer über die Verflossenen eine Klippe herabstürzte. Allein der Gedanke ließ sie wütend werden und verzog ihre hübschen Züge in eine groteske Maske des Zornes. „Sag, was ist dein Platz hier? Blagen werfen und hübsch aussehen? Oder auch etwas von Belang?“
Ihr letzter Satz saß. Er traf tief in den goldenen Käfig. Noch nie hatte Nurija so sehr ins schwarze getroffen wie jetzt. Tuanas Ohren drehten sich. Neigten sich vor und zurück, legten sich kurz in den Nacken, neigten sich wieder nach vorne. Noch vor der Entführung hätte Tuana gewusst was sie zu sagen hatte. Sie hätte die Brust raus gedrückt und voller Inbrunst erzählt, dass genau das ihre Aufgabe war. Aber das Meer... wie es an ihrer Seele zog. Wind der mit ihren Haaren spielte, die Freiheit, die sie im kreischen der Möwen und der weite des Strandes gesehen hatte. Ihr goldener Käfig war nicht mehr Golden.
Valeria war nicht mehr Valeria.
Doch, ihre Fesseln waren immer noch vorhanden und der drang, etwas zu erfüllen was tief in der Seele verankern war, zerrte an dem Bild des Meeres.
“Ja Nurija, mein Platz ist das einer Ehefrau an der Seite ihres Mannes, ihm sein Glück zu bescheren, Fohlen zu gebären und die Linie aufrecht zu erhalten. Das in mein Schwur, meine bürde!“ Tuana zwang sich zu einem lächeln. Doch man sah, wie Bitterkeit in ihren Augen auftauchte und das Glück ihren Ehemann zu finden, vernichtete.
Da waren die Regel ihrer Mutter, die Fesseln des Adels, welchen sie nicht entkam.
Vielleicht wäre sie im Reich Silas freier gewesen als hier, bei ihren Freunden und der wenigen Familie die ihr noch blieb.
“Du bist nicht feige, Nurija, das hat keiner gesagt. Ich halte dich sorge für eine der stärksten Stuten denen ich je begegnet bin.“ Aufrichtigkeit die in ihren Worten mitschwang. Tuana meinte es ernst. “Ich bin sehr froh das du bleibst.“ auch wenn Nurija damit nichts anfangen will oder konnte, so hoffte Tuana, dass sie irgendwann die Feindseligkeit ablegen konnte und vielleicht, ja nur vielleicht eine Art Freundschaft entstand.
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