18. Sommer 82, Abends | Westliches Gebirge | Néniel, Anchor Aegidius
Ein schwaches Lächeln schlich sich auf die Lippen der weißen Stute und bei dem Klang seines Namens schloss sie für einen Moment die Augen. Anchor. Anker. Die Bedeutung dieses Wortes war tief in der weißen Stute verwurzelt und erinnerte sie sogleich an eine Zeit in der es auch einen Anker in ihrem Leben gegeben hatte... bevor sie selbst zu eben jenem Anker hatte werden müssen. Er hatte sie zusammengehalten, sie gerettet und geliebt. Jetzt war sie selbst auf dem Weg dabei sich zu retten, sich zusammenzuhalten und vielleicht auch eines Tages zu lieben. Doch anstatt etwas zu sagen, nickte sie lediglich, das Lächeln beibehaltend, welches ein wenig die Kälte aus dem Gesicht der Sternentochter zu nehmen vermochte.
Als Anchor erklärte, dass er aus Valeria kam, spürte die helle Araberin, wie die Anspannung aus dem Körper ihrer Begleitung wich und sie zu schluchzen begann. Néniel hob kurz den Blick und musterte den erleichterten Ausdruck in den Augen des Jungtiers. "Alles wird gut, ich hab's dir doch gesagt...", sprach die Schimmelin und wandte sich wieder den Wunden zu, ehe sie dem Lohfarbenen erklärte, dass sie nun losgehen würden. Hatte sie selbst daran geglaubt, als sie es vor wenigen Stunden zu dem Mädchen gesagt hatte? Nein...
Zusammen und in einem für den Verletzten angemessenen Tempo, verließ die kleine Gruppe das Schlachtfeld und bewegte sich auf die Gebirgsausläufer zu. Sie sprachen nicht viel. Das mochte an den Verletzungen liegen, vielleicht aber auch an der Tatsache, dass die weiße Stute selten viel sagte. Und der Fuchs schien da ähnlich gestrickt zu sein. Nach einigen Minuten, Néniel wusste nicht ob es vielleicht sogar eine Stunde war, erreichten sie den Fuß des Gebirges.
Es war intakt. Erleichtert atmete die Sternentochter aus, spürte wie sich ihre Lungen weiteten und sah wie das erste Licht der Sterne durch die - hier nicht ganz so dichte - Aschewolke schien. Die Sonne warf nur noch ein schwaches Licht hinter dem aufgebrochenen Gebirge hervor. "Hier kannst du dich hinlegen...", erklärte die weiße Stute nachdem sie den Ort sondiert hatte und ihre empfindliche Nase dafür genutzt hatte um herauszufinden, ob sich hier noch jemand befand.
Sogleich steuerte sie eine der Pflanzen an, die sie zuvor erwähnt hatte und riss ein riesiges Büschel aus und warf es auf den Boden. Dann wieder. Und wieder. "Ich werde dich ablecken müssen, ich hoffe, dass das Okay für dich ist.", ein amüsierte Glanz legte sich in die braunen Augen der Stute, ehe sie den angewiderten Ausdruck auf Nevaehs Gesicht sah. Ja... dieser Schlick auf Anchors Wunden würde nicht gut schmecken.
So cry tonight - but don't you let go of my hand
You can cry every last tear - I won't leave 'til I understand
Promise me, just hold my hand
ANCHOR & NEVAEH - WESTLICHER GEBIRGSAUSLÄUFER
Der Weg war, wie er bereits befürchtet hatte, eine Qual. Ab einem gewissen Punkt gab er es auf, die eigene Schwäche verbergen zu wollen, ließ den Schmerz sein Gesicht verziehen und versuchte nicht länger die Schrittfolge so weich wie möglich erscheinen zu lassen. Auf halbem Weg begann er zu schwitzen und Anchor erinnerte sich verbissen daran, wofür er gekämpft hatte und weshalb er auch weiter kämpfen würde. Eine kleine Stimme flüsterte ihm zu, dass er sich bloß kurz hinlegen musste. Er würde ausruhen, seine Kräfte sammeln und sich wieder aufrichten, aber Anchor war kein Narr. Ihm war klar, dass, würde er seine Beine nun nachgeben lassen, er sich nicht so bald wieder würde hochstemmen können. Anstatt sich auf die eigene Unzulänglichkeit zu konzentrieren, schielte er zur Seite, zu dem jungen Mädchen, welches aufgelöst neben ihm her stakste und als sich ihre Blicke trafen, entsetzt zusammen zuckte. Mit einem Schnauben sah Anchor wieder fort und lief weiter, stets einen Schritt nach dem anderen. Nichts was er hier durchstand konnte dem, was diese beiden durchlebt hatten auch nur nahekommen und sie liefen ebenfalls weiter. Zumindest bis zu den Ausläufen des Gebirges würde er es ihnen gleichtun können und sich zusammenreißen.
Dennoch konnte er die Erleichterung nicht verbergen, als sie endlich ihr Ziel erreichten. Bei den Worten Néniels zögerte er kurz. Der Boden wirkte noch immer wie der sichere Tod, aber er konnte nichts anderes tun, als ihr und seinem Körper zu vertrauen. Die Schlacht hatte ihn erschöpft und gepaart mit den Ereignissen vor Silas Angriff wurde ihm schmerzlichst bewusst, dass er nun Ruhe brauchte und sie sich nicht länger verwehren konnte. Anchor gab nach, ließ die Vorderbeine einknicken und legte sich auf die Seite. Er war bereit, die Augen zu schließen und sich seinem Schicksal hinzugeben, als die Helle Worte in den Mund nahm, die nicht ekelhafter hätten sein können. Anchor hob den Kopf an und sah ausdruckslos von Néniel zu der suppenden Wunde und wieder zurück zu ihr. Hatte er denn eine andere Wahl?
„Tut, was Ihr tun müsst“, gab er mit mäßiger Begeisterung von sich. Sein Blick richtete sich wieder auf das Jungtier, welches verloren neben ihnen stand. Anchor hatte das Gefühl, dass sie alles erdenkliche versuchte, um in der Nähe Néniels zu bleiben und gleichzeitig so weit von ihm entfernt zu sein, wie nur irgendwie möglich. Anchor seufzte und sah zum Horizont. Er konnte nur hoffen, dass sich noch weitere aus den feurigen Fängen Valerias befreien konnten und er nicht der Einzige war, der sich aus der Gefahrenzone hatte bringen können.
„Sucht Ihr nach Gemeinschaft oder Freiheit?“ Sollten die Valerius und ihr Gefolge noch existieren, würde Anchor sich ohne einen weiteren Gedanken wieder in ihren Reihen einfinden. Die Frage war bloß, ob Silas einstigen Gefangenen dies auch tun wollten, oder sich nach diesem Grauen selbstständig machen wollten.
Akribisch zupfte Néniel das heilende Kraut aus den Spalten des Gebirges und beobachtete aus dem Augenwinkel wie Nevaeh unsicher zwischen ihr und Anchor hin und her blickte. Die Schimmelin würde das Kind nicht darum bitten ihr bei der Reinigung der Wunden zu helfen, doch sie würde die Kräuter auf einen Haufen zusammentragen können. "Komm Nevaeh, hilf mir Mal...", sprach die Sternentochter sanft und unterwies in kurzen aber klaren Anweisungen die junge Stute darin, wie sie die Kräuter von der Wurzel zu entfernen hatte.
Danach wandte sie sich dem Lohfarbenen zu und neigte den Kopf leicht zur Seite. "Mir wird das wohl genauso wenig Spaß machen wie dir.", Néniel hatte schon lange aufgehört irgendjemanden zu sietzen, diese Zeiten in ihrem Leben hatte die ad Acta gelegt und sie sah darin auch keine Notwendigkeit mehr. Nichtsdestotrotz umspielte ein amüsiertes Lächeln die Lippen als sie begann die Wunden des Fuchses zu reinigen und sich dabei wie eine Mutter fühlte, die gerade dabei war ihr Neugeborenes von der Eihaut zu befreien. Sie ignorierte dabei den bitteren, entzündlichen Geschmack auf ihrer Zunge. Ein Geschmack, der sie an die unzähligen Male erinnerte, in denen sie anderen Hengsten bereits bei ähnlichen Angelegenheiten geholfen hatte. Viento del Norte... sein Sohn Ferox.. Daray.. konsequent schob die weiße Stute den Gedanken beiseite, schockiert und genervt, dass selbst solch eine Aufgabe sie einige Jahre in ihrem Leben zurück katapultierte.
Zum Glück ergriff der schweigsame Fuchs wieder das Wort und stellte eine interessante Frage. Néniel selbst wusste nicht, ob sie sich ein Leben in einer Gemeinschaft wieder vorstellen konnte und wollte. Sie hatte so oft versucht außerhalb der Via Vendetta zu leben, Kontakte zu knüpfen und sich ein Leben aufzubauen, dass sie bezweifelte, dass es ausgerechnet hier funktionieren würde. Doch Nevaeh brauchte dieses Leben, sie war für eine unendliche Reise nicht gemacht. "Gemeinschaft... vorerst.", das zweite Wort kam nur noch sehr leise und für die Ohren des Jungtieres nicht verständlich von ihren Lippen. Kurz flackerte der Blick der Schimmelstute zu Nevaeh, ein aufbauendes Lächeln auf den Lippen, dann betrachtete sie ihr Werk, die sauberen Wunden die einem Mosaik gleich über dem Körper Anchors verteilt waren. "Wie ist es hier zu leben?", fragte sie und trat auf den kleinen Haufen Pflanzen zu, nahm einige davon in den Mund und zerkaute sie ausgiebig.
Als Néniel bemerkte, dass die Masse in ihrem Mund eine kleisterähnliche Konsistenz annahm, trat sie wieder auf Anchor zu und verteilte die heilenden Pflanzen sanft auf seinen Wunden - ein unzerkautes Büschel der Kräuter gab sie ihm zum essen. "Wenn es getrocknet ist, können wir weiter... Das wird aber einige Minuten dauern...", sprach sie leise, Anchor den Wink gebend, dass er durchaus ein wenig die Augen zu machen konnte. Tief holte die Sternentochter Luft, blickte in den von Aschewolken verhangenen Himmel. "Edra le men, men na guil edwen, haer o auth nîr a naeth...", ihre Stimme war nur noch ein Murmeln, während sie den warmen Körper Nevaehs wieder nah bei sich spürte.
Anchor war kein Spezialist im Bereich der Kräuterkunde und tatsächlich wollte er das auch gar nicht sein. Er wusste jedoch genug, um zu verstehen, dass die Stute sich auskannte. Er hatte großen Respekt vor Ezraels und Kyras Tätigkeiten und obwohl er vor allem das Gebrabbel vom Leibheiler des Königs nur selten verstand, wusste er, was an seinen Kompetenzen hing. Die Helle schien sich ebenso gut wie die anderen Heiler auszukennen und für einen kurzen Augenblick fragte Anchor sich, ob die Stute dazu genötigt worden war, sich auch so hingebungsvoll um Silas Wunden zu kümmern. Anchor schnaubte laut aus und sah nach vorne, zurück zu seiner Heimat, die von einer Wand aus Feuer verschlungen wurde.
Einsam, beantwortete er ihre Frage in Gedanken. Wobei er diese Einsamkeit mit jedem Tag weiter hinter sich lassen konnte. Sofern… sie überlebt hatten. Anchor schluckte schwer und schob die Gedanken an seine Familie beiseite.
„Es war selten friedlich, aber wir teilten unser Leid. Ein gerechter König und ein fruchtbares Land.“ Sie hatten wahrhaftig alles gehabt, um zufrieden sein zu können. Und trotz allem hatten manche nach mehr gestrebt und es nicht geschafft, ihre eigenen Bedürfnisse hinter das große Ganze zu stellen. Anchor verstand das Streben nach Perfektion nicht. Sie hatten genug zu Fressen gehabt, sauberes Trinkwasser, keinen Tyrannen an ihrer Spitze und ein anständiges Leben. Irgendjemand jedoch war immer unzufrieden und machte das zum Problem von allen anderen. Sollte Nero noch leben, würde er solch dummes Geschwätz, wie er es von Apiasante, Gavríil und all ihren Vorgängern hatte ertragen müssen, nicht mehr durchgehen lassen. Er stand nicht hinter erbarmungsloser Hinrichtung, aber Verständnis würde er Unruhestiftern gewiss nicht mehr entgegenbringen, wenn er es denn je getan hatte.
Anchor, in Gedanken versunken, bemerkte kaum, wie das stete Pochen langsam abklang. Es verschwand nicht zur Gänze, aber als er einen Blick zurück auf seine Flanke warf, hatte sich eine trockene Kruste des Kräutersuds über die Wunde gelegt. Ohne groß zu warten, stemmte Anchor die Vorderhufe in den Boden und atmete erleichtert aus, als er es schaffte sich wieder hochzustemmen. Der Schmerz kehrte augenblicklich zurück, aber er hatte zumindest das Gefühl, wieder laufen zu können.
„Ich danke Euch.“
Ohne sie wäre er wohl verendet, direkt neben den Vasallen von Silas. Anchor glaubte nicht an ehrenvolle Bestattungen. Der Tod war immer einfach nur das; der Tod. Dennoch… Dort seine letzten Minuten zu verbringen, war keine Erfahrung, die er teilen wollte. Der Fuchs suchte den Blick der jungen Stute und nickte ihr zu. „Dir ebenso.“
Er glaubte nicht, dass sie alsbald, wenn überhaupt jemals, Vertrauen zu ihm fassen würde, aber er konnte zumindest verdeutlichen, dass die Gefahr vorüber war. Zumindest die, die von Artgenossen ausging.
„Ich stehe tief in Eurer Schuld.“
Mit den Jahren hatte Néniel erfahren müssen, dass Frieden immer mit einem Kampf gleichzusetzen war. Es gab keine friedlichen Zeiten, wo jeder glücklich und zufrieden gestellt war. Unruhen würde es immer geben, Neid, der Drang nach Anerkennung und die Berufung auf ein vermeidliches Recht. Frieden war eine Illusion und letzten Endes konnte keiner einem Frieden geben. "Nichts und Niemand wird dir in deinem Leben je Frieden geben können.", begann Néniel daher mit ruhiger Stimme, den Blick auf die Feuerwand gerichtet, welche sich einige Kilometer von ihnen entfernt wie ein hungriges Tier durch das Land fraß. Sein eigenes Glück von anderen Abhängig zu machen.. ja, damit kannte sich die Sternentochter aus. Es hatte nicht funktioniert, es hatte alles nur noch verschlimmert. Weder die Männer die sie liebte, die Pferde mit denen sie lebte, noch die Kinder die sie gebären durfte, hatten es geschafft. "Nur du kannst dir selbst Frieden geben und wenn alle diesen Leitsatz berücksichtigen würden, wäre das Leben... friedlicher.", und manches Mal auch einsamer, dunkler. Man musste sich mit sich selbst auseinander setzen und Néniel hatte feststellen dürfen, dass das, das furchterregendste war, was sie je hatte machen müssen. Doch letzten Endes war es nicht Viento del Norte oder Daray gewesen, der Nírnaeth den Frieden gebracht hatte. Néniel hatte dieser zerrissenen Seele die einst neben der ihren in ihr wohnte, Frieden bringen können und somit sich selbst. "Sollte euer König überlebt haben, habt ihr aber immerhin eine akzeptable Ausgangssituation. Zwar kein fruchtbares Land, aber einen gerechten König - das ist in vielerlei Hinsicht mehr wert... langfristig.", damit wandte Néniel den Blick von der Feuerwand ab und auf Anchors Wunden. Ihr analytischer Blick flog über den sich langsam trocknenden Salbenbrei.
Aufmerksam musterte die Schimmelstute Anchors Bewegungen und wirkte zufrieden, dass er sich offensichtlich wieder so gut bewegen konnte. Der Schmerz würde noch ein paar Tage bleiben und leider hatten sie so wenig von dem Kraut, dass es wahrscheinlich nicht für weitere Wundumschläge reichen würden, doch die Heilung würde fortschreiten. Langsam. "Nichts zu danken.", sie nickte knapp und sagte Nevaeh, dass sie die letzten Kräuter die sie dort fand noch abzupfen sollte. Bei der Knappheit war alles was sie zurück ließen potenziell tödlich. "Vielleicht komme ich noch dazu, diese Schuld zurück zu fordern, andernfalls... sieh' es als eine gute Tat, für diesen schrecklichen Tag.", ein schmales Lächeln zupfte bei den Worten an ihren Lippen, welches etwas breiter wurde als das Kind mit einem Maul voll Kräuter zurückkehrte. "Ihr würde sagen wir gehen weiter nordwärts, oder habt ihr einen Treffpunkt an den wir dich bringen sollen?", fragte die weiße Stute weiter und richtete ihren Blick wieder auf den Lohfarbenen. Nach wie vor ignorierte sie die höfliche Anrede seinerseits - sie wollte sich nicht älter fühlen als sie ohnehin schon langsam wurde.
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